Alttier-Kalb-Bindung und Folgen des Verwaisens

Das Sozialverhalten des Rotwildes ist hoch entwickelt, die Alttier-Kalb-Bindung besonders eng. Die Kälber werden im Mai und im Juni geboren und anschließend etwa 10 Monate gesäugt. Im Gegensatz zu anderen heimischen Schalenwildarten führt der Verlust des Muttertieres im ersten Lebensjahr daher stets zu physischem und psychischem Leiden des Kalbes.

Im Gegensatz zu anderen Schalenwildarten gibt es beim Rotwild keinen Zeitpunkt im Verlauf der Jagdzeit, zu dem der Verlust des Muttertieres für das Jungwild folgenlos bliebe. Bei Reh- und Schwarzwild verläuft die Jugendentwicklung viel schneller und Kitze und zu einem normalen Zeitpunkt im Frühjahr gefrischte Frischlinge werden mit dem beginnenden Herbst selbstständig. Damwild verfügt über ein Ammensystem, durch das möglicherweise verwaiste Kälber weiterhin von der Führung des Rudels profitieren. Ganz anders beim Rotwild: Verwaiste Rotwildkälber werden aus dem Rudel ausgestoßen und holen die daraus resultierenden körperlichen Nachteile in ihrem ganzen Leben nicht mehr auf.

Enge Alttier-Kalb-Bindung

Zwischen den Mitgliedern eines Kahlwildrudels herrschen meist enge, verwandtschaftliche Beziehungen. Dies unterstreicht die enge Bindung zwischen Alttieren und ihren weiblichen Nachkommen. Rotwildkälber und selbst einjährige Tiere profitieren bei ihrer Entwicklung stark von dieser Bindung: Sie werden von ihren Müttern in sozialen Konflikten unterstützt und können so eine eher zentrale Position im Rudel einnehmen. Weitere Vorteile der Mutterführung sind das Kennenlernen besonders günstiger Futterplätze und die Übernahme von Habitatnutzungs-, Migrations- und Feindvermeidungsverhalten. Regelmäßig gesäugt werden Kälber meistens bis etwa zum Jahreswechsel, die eigentliche Entwöhnung findet etwa im Alter von zwölf Monaten statt. Aus wildbiologischer Sicht ist damit auch der Zeitraum bis zum Selbstständig werden der Jungtiere unstrittig, der im Zusammenhang mit § 22 Abs. 4 BJagdG zum Elterntierschutz immer wieder zu jagdpraktischen Diskussionen und juristischen Auseinandersetzungen führt.

Folgen des Verwaisens für Rotwildkälber

Die besondere Verantwortung für den Jäger, Rotwild-Alttiere erst dann zu erlegen, wenn sie kein Kalb mehr führen, ergibt sich sowohl aus der länger andauernden Jugendentwicklung als auch dem physischen und psychischen Leid, das einem verwaisten Kalb unmittelbar wiederfährt. Mit dem Verlust des Muttertieres verliert das Rotwildkalb seine bisherige Stellung im Rudel und wird aus dem Familienverband ausgeschlossen. Dies hat verschiedene Folgen: Verwaiste Kälber haben um bis zu 30 Prozent verringerte tägliche Körpergewichtszunahmen, da ihr Zugang zu energiereicher Äsung und Witterungsschutz stärker eingeschränkt ist. Aus den geringeren Körpergewichten resultieren geringere Überlebensraten verwaister Rotwildkälber. Körperlich schwache, allein ziehende Kälber oder abseits der Mutterfamilien stehende Stücke sind meist verwaist. Kommt es in einem Gebiet zu mehreren Kälberwaisen, schließen sich diese häufig zu Waisenrudeln zusammen oder schließen sich Hirschrudeln an. Überleben sie ihren ersten Winter, bleiben diese Tiere zeitlebens hinter der körperlichen Entwicklung ihrer Generationsgenossen zurück.

Besondere Verantwortung für die Jagd

Die physischen und psychischen Folgen des Verwaisens für ein Rotwildkalb unterstreichen die Verantwortung des Jägers bei der Jagd auf Alttiere. Gleichzeitig muss aber ein ausreichender Teil der Jagdstrecke aus Alttieren bestehen, der während eines Reduktionprojektes sogar 20 Prozent der Gesamtjagdstrecke übersteigen sollte. Eine große Herausforderung ist daher die Wahl effektiver und gleichzeitig tierschutzgerechter Jagdstrategien. Eine noch nicht veröffentlichte Studie des Instituts für Tierökologie und Naturbildung im Auftrag der Deutschen Wildtier Stiftung weist darauf hin, dass bei Bewegungsjagden, auf denen einzeln gehende Alttiere freigegeben werden, regelmäßig verwaiste Kälber zurückbleiben können. Dies gilt umso mehr, wenn vor der Jagd nur wenige Kälber erlegt wurden. Eine tier- und weidgerechte Alternative ist dafür die Spätsommerjagd mit erfahrenen Jägern zur Erlegung von Kalb-Alttier-Doubletten. Gelingt die Doublette nicht, ist beim überlebenden Alttier keine Gesäugeentzündung zu befürchten. Klug, also störungsarm, gejagt führt die Spätsommerjagd auf Kahlwild auch nicht zu einer stillen Brunft oder gar zur Aufgabe traditioneller Brunftplätze. Bei einer inzwischen hohen Kälberstrecke könnten kurz vor dem Ende der empfohlenen Jagdzeit im Dezember bei gezielten Anrührjagden mit erfahrenen und verantwortungsbewussten Jägern weitere einzeln anwechselnde Alttiere erlegt werden.

Autoren: Andreas Kinser & Olaf Simon

Eine ausführliche Literaturliste zu diesem Artikel wird auf Nachfrage bei den Autoren gerne zur Verfügung gestellt.

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